Voiceworks

„Zwischen Ambient und Wort-Loop-Zungenbrecher-Punk“ (Alexander Möckl aka Poembeat)

„A short, fun, and profound release“ (Vital Weekly)

After 30 years in poetry and 15 years in sound art, Gerald Fiebig’s »voiceworks« fuse the two strands of his artistic practice in one single release. In addition to electroacoustic compositions based on both his own voice and that of long-time collaborator Michael Herbst, Fiebig presents, for the first time ever, a collection of sound poems.

These run the gamut from nonsensical, rhythmic, yet still rather semantic spoken-word pieces to exercises in voice-based performance art in which speech is impeded by stones of increasing size being inserted into the speaker’s mouth (»Rolling the Stone of Demosthenes up the Fucking Hill«) or a fragment of speech is repeated up to the point of physical exhaustion (»echokammer vs. schreizimmer«). The track »nothing essential happens in the absence of noise« playfully references the book Noise by Jacques Attali, an important early text for the theorisation of noise. Thus, »voiceworks« also continues Gerald Fiebig’s research into the intersections of meaning and noise as well as music and noise that has informed his artistic and theoretical work at least since the release of »Pferseer Klangtrilogie« and »Phonographies« in 2013.

Interview with Gerald Fiebig

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Gerald Fiebig schreibt seit 30 Jahren Lyrik und macht seit 15 Jahren Klangkunst. Mit »voiceworks« führt er nun diese beiden Stränge seiner künstlerischen Praxis in einer einzigen Veröffentlichung zusammen.

Darauf finden sich elektroakustische Kompositionen, die auf der Stimme von Fiebig und der seines langjährigen Kooperationspartners Michael Herbst basieren. Darüber hinaus gibt es hier aber zum allerersten Mal auch eine Sammlung von Lautgedichten zu hören. Diese spannen den Bogen von rhythmischen, aber immer noch recht semantischen Spoken-Word-Nonsenstexten bis zu stimmbasierten Performances. So wird bei »Rolling the Stone of Demosthenes up the Fucking Hill« das Sprechen erschwert, indem der Sprechende immer größere Steine in den Mund nimmt; »echokammer vs. schreizimmer« wiederholt ein Textfragment bis zur körperlichen Erschöpfung der Sprechwerkzeuge.

Das Stück »nothing essential happens in the absence of noise« ist eine humorvolle Anspielung auf das Buch Noise von Jacques Attali, das ein einflussreicher Vorläufer der heutigen Theoriebildung zum Thema Noise ist. Das Konzept Noise – als Rauschen (im Unterschied zur Bedeutung) bzw. als Geräusch oder Lärm (im Unterschied zur Musik) – spielt in Gerald Fiebigs künstlerischer und theoretischer Arbeit (u.a. der Aufsatz Nichts (als) Noise unter der Sonne? – Utopien und Aporien des Noise für Testcard # 26) spätestens seit den beiden 2013 erschienenen Alben »Pferseer Klangtrilogie« und »Phonographies« eine zentrale Rolle. Mit »voiceworks« knüpft Fiebig auch an diesen Aspekt seiner künstlerischen Forschung an.

Interview mit Gerald Fiebig

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Beatrice Ottmann/Stefan Schulzki play Gerald Fiebig: Stördämpfung

Im Frühjahr 2015 bat mich Stefan Schulzki um eine Komposition für Sopran und Klavier/Elektronik. Sie sollte in einem Konzertprogramm seines Duos mit Beatrice Ottmann Verwendung finden. Das war für mich als Autodidakt, der eher im Bereich der elektroakustischen Phono-Graphie unterwegs ist als in der Notenschrift, eine große Ehre, aber auch eine Herausforderung. Unter Anwendung nahezu aller Methoden, die ich mir aus der experimentellen Musik – danke an dieser Stelle an Wolfram Oettl, der mir einst das Grundlagenwerk „Experimental Music: Cage and Beyond“ von Michael Nyman geliehen hat – und der jüngeren Konzeptmusik angeeignet hatte, erstellte ich die grafischen bzw. Text-Partituren „Stördämpfung“, „Münchner Klangtrilogie“, „Mozart für Marsianer“ und „A Brief History of Phonography“. Sie alle sind im PDF-Format in diesem Download-Album enthalten. Die Aufführungsrechte aller Stücke sind unter einer Creative-Commons-Lizenz (Attribution/Share Alike) kostenlos nutzbar.

Zur Aufführung kam dann „Stördämpfung“, und zwar am 05. Oktober 2015 im Leopold-Mozart-Zentrum in Augsburg bei dem Konzert „Sounds and Ballads“ von Beatrice Ottmann und Stefan Schulzki, veranstaltet vom Tonkünstlerverband Augsburg-Schwaben. Die Aufnahme auf diesem Album stammt aber nicht von der Uraufführung. Es handelt sich um den Mitschnitt einer Probe im Vorfeld des Konzerts, der sich in der Länge und dem Duktus durchaus in einigen Aspekten von der Uraufführung unterscheidet. Zwar existiert auch ein Mitschnitt der Uraufführung. Wir haben uns jedoch für die Veröffentlichung dieser Fassung entschieden, weil sie uns beim Hören als die gelungenere Improvisation erschien.

Denn, so paradox das klingen mag, darum ging es genau bei diesen Kompositionen: um Improvisation. Mein Ziel war, bestimmte klangästhetische und inhaltliche – Harry Lehmann würde sagen: „gehaltsästhetische“ – Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Komposition als abgrenzbares „Stück“ definieren sollten. Innerhalb dieses Rahmens sollten Beatrice und Stefan aber die maximale Freiheit der klanglichen Ausgestaltung als improvisierendes Duo haben. Dass ich die „Komponistenfunktion“ übernahm (so wie Michel Foucault von der „Autorfunktion“ spricht), die in westlich geprägter „Kunstmusik“ nun mal vorgesehen ist, war – wenn man so will – eine Art List, um zwei großartige Performer:innen aus der „dienenden“ Rolle der sogenannten „Interpret:innen“ in die ihnen zustehende Funktion von „(Mit-) Schöpfer:innen“ der Musik zu holen.

In einer musikalischen Kultur, die sehr stark von fixierten Noten-Texten geprägt ist – man spricht ja im Kontext von sogenannter E-Musik auch von der „Literatur“ für eine bestimmte Besetzung – können improvisatorische „Eigenmächtigkeiten“ leicht als Störung interpretiert werden. In musikalischen Subkulturen, die das improvisatorische Element in den Vordergrund stellen – am eindeutigsten natürlich in jenem Bereich, der bereits als Freie Improvisation firmiert – kann hingegen umgekehrt die Einschränkung des freien Spiels durch schriftliche Fixierung zur Störung geraten. Was musikalisches Signal ist und was Störung, ist relativ und kontextabhängig. Der Titel „Stördämpfung“ greift genau diese Unschärfe auf und lädt die Spieler:innen ein, die Grenze von „signal“ und „noise“ jeweils für sich selbst – vielleicht sogar von Fall zu Fall – auszuloten, denn: „Noise is always relational“ (Paul Hegarty in „Noise/Music: A History“). Denn das Wort „Stördämpfung“ vollzieht diese Unschärfe selbst: Es kann eine Dämpfung des erwünschten Nutzsignals durch das Störsignal bzw. Rauschen meinen – aber auch eine Dämpfung des Störsignals zur Verbesserung des Nutzsignals, also etwa dasselbe wie „Rauschunterdrückung“.

Das Spiel von Signal und Störgeräusch wird auf diesem Album aber nicht nur auf der konzeptionell-metaphorischen Ebene aufgeführt. Die Aufnahmen wurden nicht unter perfekten tontechnischen Bedingungen aufgenommen, da sie ursprünglich nicht für eine Veröffentlichung geplant waren. Dies verbindet den Probenmitschnitt von „Stördämpfung“ mit dem anderen Teil des Albums: Die Tracks von „heimatroman: blauer dunst“ wurden aus den Livemitschnitten von zwei Aufführungen des Programms im Rahmen der „Langen Kunstnacht“ am 04. Juni 2016 in der Neuen Galerie im Höhmannhaus in Augsburg zusammengestellt. Als wir uns nun für die Veröffentlichung entschieden haben, galt es für alle Aufnahmen auch auf tontechnischer Ebene die richtige Balance zwischen tontechnischem Qualitätsanspruch und der unabweisbaren Präsenz des Livemoments zu finden – einer Präsenz, die manchmal gerade in der hörbaren Nicht-Perfektion der Aufnahme erlebbar wird.

Die Musik von „heimatroman: blauer dunst“ entspringt einzig und allein der improvisatorisch-kompositorischen Zusammenarbeit von Beatrice Ottmann und Stefan Schulzki. Mein Anteil daran sind die Texte, die die beiden aus meinem Gedichtband „normalzeit“ (Innsbruck: Edition Skarabaeus im Studienverlag 2002) ausgewählt haben. Dafür, dass diese Texte so lange nach ihrer Veröffentlichung durch die musikalische Performance nochmals einen derart starken Auftritt erhalten haben, bin ich Beatrice und Stefan sehr, sehr dankbar – ebenso wie für ihre Einwilligung, das Material zu veröffentlichen, und für die Unterstützung bei der Zusammenstellung des Albums. Im besten Fall dokumentiert es nicht nur eine für meine eigene Entwicklung sehr wichtige Zusammenarbeit, sondern auch ein genresprengendes Composer-Performer-Duo auf der Höhe seiner künstlerischen Zusammenarbeit, das die Grenzen zwischen Neuer Musik, elektroakustischer Improvisation, Noise/Industrial, Jazz und Pop einzureißen wusste wie kaum jemand anders, den ich kennenlernen durfte.

Gerald Fiebig, im November 2021 

Passagen. Werk für Walter Benjamin

Walter_Benjamin_vers_1928SHORT SYNOPSIS IN ENGLISH:

„Passages/Arcades. A Work for Walter Benjamin“ is a tribute to the German philosopher, media theorist, and radio writer marking the 80th anniversary of his death on 26 September 1940. The radiophonic composition consists of several parts which each give acoustic shape to Benjamin’s thought. While the quotes are in German, the piece can be listened to as a sound work whose methods include radio drama, field recording, drone music, improvised sound work, and noise.

Die Uraufführung der radiophonen Komposition „Passagen. Werk für Walter Benjamin“ wurde am 30.08.2020 ab 21.00 Uhr im Rahmen der Sendung „entartet“ live auf Radio Free FM (Ulm) übertragen. Das Stück wurde von Christian Clement für die Redaktion „entartet“ in Auftrag gegeben.

Am 20.09.2020 sendete die Radiofabrik Salzburg in der Sendung „Artarium“ eine speziell dafür eingerichtete Fassung des Stücks.

Am 16.11.2020 um 10:00 Uhr (MEZ) wurde das Stück auf Radiophrenia in einer speziellen 55-Minuten-Fassung gesendet.

 „Passages/Arcades.A Work for Walter Benjamin“ is a tribute to the German philosopher, mediatheorist, and radio writer marking the 80th anniversary of his deathon 26 September 1940. The radiophonic composition consists of several partswhich each give acoustic shape to Benjamin’s thought. While the quotes are inGerman, the composer starts the programme by introducing his concept inEnglish, so it can be listened to as a sound work whose methods include radiodrama, field recording, drone music, improvised sound work, and noise. The relationships created between Benjamin’s texts and the sounds in the piece are partly inspired by the essay „Exploding the Atmosphere: Realizing the Revolutionary Potential of ‚the Last Street Song'“ in which New Zealand-based noise musician Bruce Russell situates experimental sound practice in a political context  by referring to Benjamin and the Situationist International.

Das Stück wurde speziell für diese Sendung entwickelt und erinnert anlässlich seines bevorstehenden 80. Todestags an Walter Benjamin – scharfsinniger Kulturtheoretiker und virtuoser Prosaautor, polemischer Literaturkritiker und visionärer Geschichtsphilosoph, messianischer Kommunist und antifaschistischer Kämpfer und nicht zuletzt medienbewusster Radiomacher.
Das Stück verwebt Zitate aus Benjamins Schriften mit unterschiedlichen Klang-Szenen. Gerald Fiebig hat sich in verschiedenen Texten immer wieder auf Walter Benjamin bezogen, aber noch nie in einer akustischen Arbeit. Die Bezüge, die er in diesem Stück zwischen Benjamins Texten und seinen Sounds herstellt, sind teilweise inspiriert von dem Aufsatz „Exploding the Atmosphere: Realizing the Revolutionary Potential of ‚the Last Street Song'“, in dem der neuseeländische Noise-Musiker Bruce Russell experimentelle Sound-Praxis mit Bezug auf Benjamin und die Situationistische Internationale in einen politischen Kontext stellt.

Außer dem „Passagen-Werk“ (v.a. dem Konvolut N) werden u.a. folgende Texte Walter Benjamins zitiert:

„Über den Begriff der Geschichte“

Das Telefon“ (aus der „Berliner Kindheit um Neunzehnhundert“)

„Der Flaneur“

Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit

„Was ist das epische Theater?“

Erfahrung und Armut

Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“

„Theologisch-politisches Fragment“

Studio KO-OP (Paolo Moretto & PAAK)/EMERGE/Gerald Fiebig: voice & noise

Remembering the October Revolution, the Munich soviet republics & DADA – we had opportunities.

Live performance at Kulturhaus abraxas (Augsburg / Germany), February 2019

credits

released January 11, 2020

Little instruments, effects, voices, tapes etc. by Studio KO-OP / EMERGE / Gerald Fiebig
recording by EMERGE
editing by EMERGE & PAAK
cover by PAAK

www.ko-op.eu
www.paolomoretto.com
www.peterkastner.eu
emergeac.wordpress.com

 

Gerald Fiebig/Eri Kassnel: Utopia wohnt nebenan

Sonntag, 27. Dezember 2015, 23:03 – 23:59, Ö1
KUNSTRADIO – RADIOKUNST

Utopia wohnt nebenan from EKH on Vimeo.

25 Jahre nach Ende des Kalten Krieges ist vielerorts wieder eine große politische Distanz zwischen Westeuropa (z.B. Österreich) und Osteuropa (z.B. Rumänien) auszumachen. Allein schon an den historischen Wahlverwandtschaften zwischen den Städten Wien und Timisoara lässt sich festmachen, dass dies ein Zerrbild ist. Für das Stück „Utopia wohnt nebenan“ bewegen sich die Autor_innen durch die beiden Städte, inspiriert vom situationistischen Konzept der psychogeographischen Erkundung. Ausgangspunkte des ‚Umherschweifens‘ sind jeweils die Stadtteile Innere Stadt und Josefstadt (die es aufgrund der gemeinsamen Geschichte in Wien und Timisoara gibt). Aus den dabei gesammelten Fieldrecordings komponieren sie die Klanglandschaft einer utopischen Stadt, in der der Gegensatz von West und Ost außer Kraft gesetzt ist. In die Komposition eingewoben sind O-Töne mit Zeitzeug_innen, die sich an solidarisches Zusammenleben in Wien bzw. Timisoara unter schwierigen sozialen und politischen Bedingungen in unterschiedlichen Phasen des 20. Jahrhunderts erinnern. Die Zitate werden anhand gemeinsamer thematischer Motive in einen dialogartigen Bezug zueinander gesetzt, die den Blick auf den „Überschuss des Möglichen im Wirklichen“ (Ernst Bloch) der realen Geschichte von Österreich und Rumänien eröffnen. Die Sprecher_innen sind Friederike Brenner (geboren 1923 in Mödling bei Wien) und Johann Kassnel (geboren 1932 in Jahrmarkt bei Timisoara).

25 years after the end of the Cold War, the political distance between Western Europe (e.g. Austria) and Eastern Europe (e.g. Romania) seems to be increasing again in many respects. But this distorts the fact that there is a lot of shared history, which already becomes evident when looking at the parallels between the cities of Vienna and Timisoara. For their piece „Utopia lives next door“, the authors move through both cities, inspired by the situationist concept of psychogeographical examination of urban environments by means of ‚dérive,‘ the deliberately drifting walk through a city. The starting point of the excursions are the quarters Innere Stadt and Josefstadt – due to the shared history, both Vienna and Timisoara have districts with these names. From the field recordings thus collected, the authors compose the soundscape of a utopian city in which the difference between West and East has been erased. Woven into the composition are voice recordings from interviewees recalling instances of lived solidarity under difficult social and political circumstances in Vienna and Timisoara during different phases of the 20th century. Based on shared thematic motifs, the quotes are arranged into a quasi-dialogic relation to each other that offers a glimpse of the possibilities that were at hand, but were missed in the actual history of Austria and Romania. The speakers are Friederike Brenner (born in 1923 in Mödling near Vienna) and Johann Kassnel (born 1932 in Jahrmarkt near Timisoara).

Rolling The Stone Of Demosthenes Up The Fucking Hill

Released in Huellkurven #4 online magazine #4

Ancient Greek orator Demosthenes is said to have trained his speaking skills by reciting long texts with little stones in his mouth. This practice is fused here with another mention of stones in the ancient Greek tradition, the mythical stone of Sisyphos which he is condemned to roll up a hill, eternally failing. In my performance, I am representing the issue of failure not only by reciting a quote from Samuel Beckett on the topic, but also by putting bigger and bigger stones into my mouth while reciting it.

Phonographies

Originally released on CD with BAD ALCHEMY magazine # 79 in December 2013 (www.badalchemy.de)

[ENGLISH BELOW]

Gerald Fiebig
Phonographies

Phonographie, das „Schreiben von Klang“, ist nicht einfach irgendeine Metapher für den Prozess der Schall(platten)aufnahme. Denn die Entstehung der Aufnahmetechnik hat das enge Verhältnis von Schrift und Klang, wie es in der westlichen Welt vorher jahrhundertelang durch die Praxis schriftlicher Noten-„Literatur“ bestand, grundlegend verändert. Die Partitur als Musik-Schrift wurde durch die elektrische Aufnahme potenziell überflüssig. Deshalb haben Komponisten im Lauf des 20. Jahrhunderts so viele alternative Notationssysteme ersonnen, um die Partitur zu retten – als den Schrein, in dem das auratische Original eines musikalischen Werks seinen Ort hat. Meine Phonographies befassen sich aber aber eher am Rande mit dem Verhältnis von Schreiben und Musizieren, sondern mehr mit der Beziehung zwischen Schreiben und Sprechen sowie zwischen Poesie und Unsinn. Die gedankliche und klangliche Brücke zwischen den Polen ist dabei stets das „Geräusch“, durchaus auch im Sinne der Genrebezeichnung „Noise“. Geräusch/Noise und Poesie haben viel gemeinsam, wobei sich die Poesie zur Alltagssprache verhält wie Geräusch/Noise zur Musik. Der Semiotiker Umberto Eco hat die Ansicht vertreten, dass das, was in der Alltagskommunikation (störendes) Geräusch ist – Zweideutigkeit, die Möglichkeit mehrerer widersprüchlicher Bedeutungen, ein unüblicher Gebrauch von Kommunikationscodes usw. – gerade die Grundlage der poetischen Kommunikation bildet. Denn diese eröffnet einen sprachlichen Raum vielfältiger Bedeutungen, in dem die Leser_in die Freiheit hat, ihren eigenen Weg zu finden. Auch das ist nicht einfach eine Metapher, die mit den informationstheoretisch-semiotischen und akustischen Aspekten des Begriffs „Geräusch“ spielt. Denn ganz ähnlich wie ein Gedicht oft mehr potenzielle Bedeutungen anbietet, als eine Leser_in (beim ersten Lesen oder überhaupt) erfassen kann, also einen Überschuss an Bedeutungen, so ist auch das Geräusch (besonders wenn es die Gestalt von weißem Rauschen annimmt, aber auch in diversen Spielarten von „Noise Music“) ein Zuviel an akustisch-musikalischer Information, mehr als die Ohren und das Gehirn beim ersten Kontakt dekodieren können: ein Überschuss an potenzieller Musik; Musik, die jede Hörer_in für sich selbst finden darf, so wie die Leser_in eines Gedichts dessen Bedeutung für sich (er-)findet.

Die Außenseite der Musik basiert auf Geräuschen, die beim physischen Manipulieren einer Tonbandspule, einer Schallplatte, einer CD und einer Minidisc (jeweils ohne Abspielgeräte) enstanden. Jener materielle Aspekt des Tonträgers, der eben nicht Ton oder Musik, ja nicht einmal Information ist, wird hier eben doch zum Klangereignis und unterstreicht so die materielle Dimension jeglicher Schreib- und Aufnahmepraxis: Sie ist untrennbar von dem Medium, in dem sie stattfindet.

de composition basiert auf dem Text eines weniger bekannten, aber für das Thema Geräusch/Musik überaus einschlägigen Slogans aus dem Pariser Mai 1968 („Man komponiert nicht in einer zerfallenden [sich dekomponierenden] Gesellschaft“). Der Satz wird von seinem Inhalt „entleert“, indem er ständig wiederholt und dann das Sprechen allmählich auf Geräusche reduziert wird.

Emptied Words folgt einer ähnlichen Methode, aber im Unterschied zum knackigen Polit-Slogan war der hier verwendete Text von vornherein auf semantische Leere angelegt. Es handelt sich um einen Cut-up-Text, den ich in einer Spam-E-Mail fand und so zu lesen versuche, als hätte er eine Satzstruktur. (Es wird ein Code angewendet, der bei dem Text nicht wirklich funktioniert, deshalb entsteht aus der Beziehung von Code und Text eben „Geräusch“.) Der Text ist als weißes Rauschen intendiert, als eine mit stochastischen Mitteln konstruierte Zusammenstellung von Wortfeldern, mit deren Hilfe die Mail Spam-Filter überlisten soll, die nach bestimmten Wörtern oder Wortkombinationen suchen. Dass die dabei entstandene Collage höchst poetische Assoziationsketten hervorbringt, ist vermutlich gegen die Absicht des Absenders. Aber diese Grenzüberschreitung vom Geräusch zur Bedeutung wird auf der klanglichen Ebene auch wieder dadurch unterlaufen, dass die Stimme ins Geräusch übergeht.

Noise Poetry kombiniert Fragmente meiner Stimme, die eines meiner Gedichte liest, mit anderen Noise-Praktiken. Damit wird der Ansatz von Emptied Words ergänzt: Das Sprechen als Geräusch (da nicht einmal klar wird, in welcher Sprache der fragmentierte Texte abgefasst war, kann man die Fragmente auf keinerlei semiotischen Code beziehen) wird Teil eines Klangkontinuums, in dem Sprache nur eine von vielen Spielarten des Geräuschs ist.

Espèce d’écriture basiert auf einer Word-Datei, die als Klangdatei ausgelesen wurde. Es handelte sich um den Text einer Ausschreibung des Institut de Musique Electroacoustique de Bourges zum Thema Phonographie, auf die das Stück reagiert. Das klangliche Ausgangsmaterial wurde remixt, indem die Maus mit Schreibbewegungen der Hand über die Benutzeroberfläche der Soundsoftware geführt wurde.

Optophon Palimpsest geht aus von Aufnahmen einer Performance der Künstlerin Barbara Proksch. In ihren Performances unter dem Titel Optophon macht sie die gestischen, körperlichen Aspekte des Schreibens hörbar, indem sie die Fläche, auf die sie schreibt, mit Mikrofonen und Verstärkern versieht. Die vermeintlich stille (oder zumindest leise) Praxis des Schreibens offenbart dadurch einen geräuschhaften, extrem physischen Charakter. Ich remixte die Aufnahme einer ihrer Performances, indem ich mehrere Male hintereinander alle Buchstaben des Alphabets mit dem Finger auf das Kontrollfeld eines KAOSS-Pad-Multieffektgeräts schrieb. So entstanden zufällige Klangeffekte aus einer höchst kodifizierten Form des Schreibens. Indem der Code vorgeführt wird, der dem Schreiben zugrunde liegt – das Alphabet –, entsteht Geräusch bzw. Noise.

Barbara Proksch
OPTOPHON
Papier als Datenträger

PAPIER ist optisch wie akustisch mein Botenstoff.
… mit all seinen Transparenzen … Oberflächen … Stärken …
seiner Spannkraft und seiner launischen Präsenz.
Jede Berührung mit dem Stift etc. temperiert auf jeder Oberfläche die
Strichsetzung neu.
Jede Heftigkeit wird zu einem Lauschangriff.
Das Ohr hört die Linie ab – befindet sich in einem Rededuell mit der
Aufzeichnung.
Ein Prozess zwischen Schrift & Sprache.
Wenn ich diese Wahrnehmungen über Mikrophone verstärke,
erwacht zwischen Auge und Ohr ein Dialog.
Das Ohr lernt sehen – das Auge lernt die Geduld des Ohres auszuhalten,
die Zeit im gewohnten Ablauf des Sehens anders zu justieren.
Ich erlebe ein Echo.
Es fordert meine Gangart des Händischen in einen Rhythmus,
dessen ROHTON-Palette mich über das Ohr in die Gestik der Zeichnung zurückführt
als Dolmetscher …. ohne Manipulation.

„Der Klang kommt von dem Ort zu mir, auf dem ich bestimmen kann, wo ich hin
will” (Godard)

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Phonographies by Gerald Fiebig

Phonography, the “writing of sound,” is not only a metaphor for the process of sound recording. In fact, the advent of sound recording has made music-as-writing (the score) potentially superfluous, which is why, throughout the 20th century, there has been a proliferation of alternative notations on the part of composers in an attempt to save the score as the place where the musical work as auratic original is enshrined. Phonographies, however, is not about the relation between writing and music, but between writing and speech, between poetry and nonsense, and “noise” acts as the conceptual and sonic strategy that ties them together. Noise and poetry have a lot in common, with poetry being to everyday language what noise is for music. For semiotician Umberto Eco, that which may be deemed (undesirable) noise in factual communication – ambiguity, the possibility of several (contradictory) meanings, unorthodox uses of communicative codes, etc. – is at the very core of poetic communication, which opens up a linguistic space of multiple meanings in which the reader is free to find her own path. Again, this is not only a metaphor playing on the informational/semiotic and acoustic aspects of the term “noise.” In fact, very much like a poem may offer more potential meanings to a reader than she may be able to grasp (at first reading or at all), an excess of meanings, noise (most purely in the form of white noise, but also in the various forms of noise music) is, almost by definition, a too-much of acoustic/musical information, more than the ears and brain can decode and categorise at first contact: an excess of potential musics; musics that each listener is invited, like the reader of a poem, to find for herself.

The Outside of Music is based on the sounds of physically manipulating (without the proper machines) a reel of tape, a vinyl record, a CD, and a minidisc. The material aspect of the medium, that which is not music, not even information, becomes the sonic event and emphasises the material quality of all writing and recording, its being bound up with the medium in which it occurs.

de composition is based on the text of a lesser-known, yet highly noise/music related slogan from Paris May 1968 (“In a decomposing society, you don’t compose”) which is “emptied out” of its content by repeating it over and over and then gradually reducing speech to noise.

Emptied Words employs a similar strategy, but with a text that, unlike the snappy political slogan, was meant to be empty from the start. It is a cut-up text found in a spam e-mail that the vocalist tries to read as if it had a sentence structure. (A code is applied that does not really work on the text – the result is relational noise.) The text is intended as white noise, a stochastically constructed assemblage of lexical fields aimed at bypassing spam filters that are programmed to look for specific words or clusters thereof. Possibly against the sender’s intention, the resulting collage offers chain-association of a highly poetic character. Yet this crossing-over from noise into meaning is subverted on the sonic level by the voice crossing over into noise.

Noise Poetry combines fragments of me reading one of my poems with other noise strategies in a move complementing the strategy of Emptied Words: speech-as-noise (it is even unclear which language the fragmented text was in, so there is no semiotic code to refer to) becomes part of a sonic continuum in which speech is just one of many aspects of noise.

Espèce d’écriture is based on the sonification of a Word file of a call for submissions from the Institut de Musique Electroacoustique de Bourges, for which the piece was created. The basic sound material was remixed by using the mouse in ways that imitated the movements of handwriting while running the sound manipulation software.

Optophon Palimpsest is based on recordings of a performance by artist Barbara Proksch. In her Optophon performances, she makes the gestural, bodily aspects of writing audible by amplifying the surface on which she writes. The supposedly silent (or at least quiet) practice of writing thus reveals a noisy, visceral character. I remixed the sound recordings of one of her performances by tracing several times all the letters of the alphabet on the control pad of a KAOSS Pad multi-effect device, thus creating random sound effects out of a highly codified form of writing (basically just the presentation of the underlying code).

electrOMyogrAphy (vanishing ceaselessly)

Released on the album »Phonosurgery« by V.A. // A 100th jubilee tribute to Godfrey Edward Arnold
(Vocology #01 on the atemwerft label)

‚An electromyograph detects the electrical potential generated by muscle cells when these cells are electrically or neurologically activated‘ (en.wikipedia.org/wiki/Electromyography), a method used by Godfrey Edward Arnold for diagnosing laryngeal problems. Much like the wave-form diagrams of digital audio recordings, electromyography is a method of visualising the human voice not in its meaning (that’s what writing does), but in its fleeting materiality. Thus, I based this track on an ‚electrophonogram’ (a recording) of me performing my piece ‚MeditAtiOn on Duration (Part II: Vanishing)‘ by surgically removing the pauses specified by the original score.

‚Die Elektromyografie (oder -graphie) (EMG) ist eine elektrophysiologische Methode in der neurologischen Diagnostik, bei der die elektrische Muskelaktivität gemessen wird'(de.wikipedia.org/wiki/Elektromyografie), eine Methode, die Gottfried Eduard Arnold zur Diagnose von Kehlkopfproblemen anwendete. Ähnlich den Wellenform-Diagrammen digitaler Audio-Aufzeichnungen ist Elektromyographie eine Methode, die menschliche Stimme zu visualisieren – nicht hinsichtlich ihrer Bedeutung (was in der Schrift geschähe), sondern hinsichtlich ihrer flüchtigen Materialität. So basiert mein Track auf einem ‚Elektrophonogramm‘ meiner Performance meines Stückes ‚MeditAtiOn on Duration (Part II: Vanishing)‘ , bei der ich chirurgisch die Pausen des Original-Scores entfernte.