Beatrice Ottmann/Stefan Schulzki play Gerald Fiebig: Stördämpfung

Im Frühjahr 2015 bat mich Stefan Schulzki um eine Komposition für Sopran und Klavier/Elektronik. Sie sollte in einem Konzertprogramm seines Duos mit Beatrice Ottmann Verwendung finden. Das war für mich als Autodidakt, der eher im Bereich der elektroakustischen Phono-Graphie unterwegs ist als in der Notenschrift, eine große Ehre, aber auch eine Herausforderung. Unter Anwendung nahezu aller Methoden, die ich mir aus der experimentellen Musik – danke an dieser Stelle an Wolfram Oettl, der mir einst das Grundlagenwerk „Experimental Music: Cage and Beyond“ von Michael Nyman geliehen hat – und der jüngeren Konzeptmusik angeeignet hatte, erstellte ich die grafischen bzw. Text-Partituren „Stördämpfung“, „Münchner Klangtrilogie“, „Mozart für Marsianer“ und „A Brief History of Phonography“. Sie alle sind im PDF-Format in diesem Download-Album enthalten. Die Aufführungsrechte aller Stücke sind unter einer Creative-Commons-Lizenz (Attribution/Share Alike) kostenlos nutzbar.

Zur Aufführung kam dann „Stördämpfung“, und zwar am 05. Oktober 2015 im Leopold-Mozart-Zentrum in Augsburg bei dem Konzert „Sounds and Ballads“ von Beatrice Ottmann und Stefan Schulzki, veranstaltet vom Tonkünstlerverband Augsburg-Schwaben. Die Aufnahme auf diesem Album stammt aber nicht von der Uraufführung. Es handelt sich um den Mitschnitt einer Probe im Vorfeld des Konzerts, der sich in der Länge und dem Duktus durchaus in einigen Aspekten von der Uraufführung unterscheidet. Zwar existiert auch ein Mitschnitt der Uraufführung. Wir haben uns jedoch für die Veröffentlichung dieser Fassung entschieden, weil sie uns beim Hören als die gelungenere Improvisation erschien.

Denn, so paradox das klingen mag, darum ging es genau bei diesen Kompositionen: um Improvisation. Mein Ziel war, bestimmte klangästhetische und inhaltliche – Harry Lehmann würde sagen: „gehaltsästhetische“ – Rahmenbedingungen zu schaffen, die die Komposition als abgrenzbares „Stück“ definieren sollten. Innerhalb dieses Rahmens sollten Beatrice und Stefan aber die maximale Freiheit der klanglichen Ausgestaltung als improvisierendes Duo haben. Dass ich die „Komponistenfunktion“ übernahm (so wie Michel Foucault von der „Autorfunktion“ spricht), die in westlich geprägter „Kunstmusik“ nun mal vorgesehen ist, war – wenn man so will – eine Art List, um zwei großartige Performer:innen aus der „dienenden“ Rolle der sogenannten „Interpret:innen“ in die ihnen zustehende Funktion von „(Mit-) Schöpfer:innen“ der Musik zu holen.

In einer musikalischen Kultur, die sehr stark von fixierten Noten-Texten geprägt ist – man spricht ja im Kontext von sogenannter E-Musik auch von der „Literatur“ für eine bestimmte Besetzung – können improvisatorische „Eigenmächtigkeiten“ leicht als Störung interpretiert werden. In musikalischen Subkulturen, die das improvisatorische Element in den Vordergrund stellen – am eindeutigsten natürlich in jenem Bereich, der bereits als Freie Improvisation firmiert – kann hingegen umgekehrt die Einschränkung des freien Spiels durch schriftliche Fixierung zur Störung geraten. Was musikalisches Signal ist und was Störung, ist relativ und kontextabhängig. Der Titel „Stördämpfung“ greift genau diese Unschärfe auf und lädt die Spieler:innen ein, die Grenze von „signal“ und „noise“ jeweils für sich selbst – vielleicht sogar von Fall zu Fall – auszuloten, denn: „Noise is always relational“ (Paul Hegarty in „Noise/Music: A History“). Denn das Wort „Stördämpfung“ vollzieht diese Unschärfe selbst: Es kann eine Dämpfung des erwünschten Nutzsignals durch das Störsignal bzw. Rauschen meinen – aber auch eine Dämpfung des Störsignals zur Verbesserung des Nutzsignals, also etwa dasselbe wie „Rauschunterdrückung“.

Das Spiel von Signal und Störgeräusch wird auf diesem Album aber nicht nur auf der konzeptionell-metaphorischen Ebene aufgeführt. Die Aufnahmen wurden nicht unter perfekten tontechnischen Bedingungen aufgenommen, da sie ursprünglich nicht für eine Veröffentlichung geplant waren. Dies verbindet den Probenmitschnitt von „Stördämpfung“ mit dem anderen Teil des Albums: Die Tracks von „heimatroman: blauer dunst“ wurden aus den Livemitschnitten von zwei Aufführungen des Programms im Rahmen der „Langen Kunstnacht“ am 04. Juni 2016 in der Neuen Galerie im Höhmannhaus in Augsburg zusammengestellt. Als wir uns nun für die Veröffentlichung entschieden haben, galt es für alle Aufnahmen auch auf tontechnischer Ebene die richtige Balance zwischen tontechnischem Qualitätsanspruch und der unabweisbaren Präsenz des Livemoments zu finden – einer Präsenz, die manchmal gerade in der hörbaren Nicht-Perfektion der Aufnahme erlebbar wird.

Die Musik von „heimatroman: blauer dunst“ entspringt einzig und allein der improvisatorisch-kompositorischen Zusammenarbeit von Beatrice Ottmann und Stefan Schulzki. Mein Anteil daran sind die Texte, die die beiden aus meinem Gedichtband „normalzeit“ (Innsbruck: Edition Skarabaeus im Studienverlag 2002) ausgewählt haben. Dafür, dass diese Texte so lange nach ihrer Veröffentlichung durch die musikalische Performance nochmals einen derart starken Auftritt erhalten haben, bin ich Beatrice und Stefan sehr, sehr dankbar – ebenso wie für ihre Einwilligung, das Material zu veröffentlichen, und für die Unterstützung bei der Zusammenstellung des Albums. Im besten Fall dokumentiert es nicht nur eine für meine eigene Entwicklung sehr wichtige Zusammenarbeit, sondern auch ein genresprengendes Composer-Performer-Duo auf der Höhe seiner künstlerischen Zusammenarbeit, das die Grenzen zwischen Neuer Musik, elektroakustischer Improvisation, Noise/Industrial, Jazz und Pop einzureißen wusste wie kaum jemand anders, den ich kennenlernen durfte.

Gerald Fiebig, im November 2021 

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Stefan Barcsay: CETACEA – Vier Stücke von Gerald Fiebig

Vier Stücke von Gerald Fiebig für Gitarre und Zuspiel, komponiert 2020
Stefan Barcsay gewidmet
Aufgenommen bei der Uraufführung am 21. Oktober 2020 im Kulturhaus abraxas, Augsburg

Ein Booklet mit Informationen zu den Stücken sowie die Partituren der Stücke sind im Download enthalten.
Die Zuspieltracks für eine Aufführung der Stücke sind auf Anfrage beim Komponisten erhältlich: fiebiggerald@gmail.com.
Aufführungen sind GEMA- und kostenfrei bei Namensnennung (Creative Commons License: Attribution / No Derivatives)

Die Kompositionen und das dokumentierte Konzert wurden gefördert vom Musikfonds e.V. aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

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Four pieces by Gerald Fiebig for guitar and playback, composed 2020
Dedicated to Stefan Barcsay
Recorded in concert at the world premiere on 21 October 2020 at Kulturhaus abraxas, Augsburg

A booklet with information on the pieces and the scores are included in the download (both in German).
English translations of the booklet and scores, as well as the playback tracks for a performance of the pieces, are available upon request from the composer: fiebiggerald@gmail.com
Performances must be credited, but are free of charge and royalties (Creative Commons License: Attribution / No Derivatives).

The compositions and the concert documented here were supported by Musikfonds e.V. with funds from the German federal government’s secretary for culture and media. 

Rezension: „Der Highbrow-Award für Dezember geht an Gerald Fiebig & Stephan Barcsay. Ersterer ist Soundartist, der Zweite Gitarrenvirtuose im Bereich Klassik und zeitgenössische Musik. Wie zwei Gehirnhälften setzen sie ein Megabrain-Album aus Gitarrenklassik und Elektroakustik zusammen: »cetacea« (Digitalalbum | gebrauchtemusik.bandcamp.com). Ein Live-Mitschnitt der Uraufführung im Kulturhaus abraxas (Oktober 2020): vier Kompositionen für Gitarre und elektroakustisches Zuspiel. Das Ergebnis ist dabei überraschend: Drone-Stuff wie von Windy & Carl, dann Quiet Music und Minimalklang. Das titelgebende »Cetacea« schließlich – so der zoologische Fachname für Wale – arbeitet mit Field-Recordings, Walaufnahmen und subtilen Soundart-Interventionen. »Echos of Industry III« greift mit dem Motiv des Augsburger Gaswerks Industriegeschichte in Industrialklängen, Noise-Impro und Word-Samples auf.“ – Martin Schmidt in „a3kultur“ (Dezember 2020)

Gespräch zwischen Stefan Barcsay und Gerald Fiebig über das Projekt CETACEA.

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One of the four pieces documented on video by Eric Zwang-Eriksson / Eines der 4 Stücke im Videomitschnitt von Eric Zwang-Eriksson:

Stefan Barcsay spielt „CD“ von Gerald Fiebig

Beim selben Konzert spielte Stefan Barcsay auch „Pietà“ von Larisa Vrhunc.

At the same concert, Stefan Barcsay also performed „Pietà“ by Larisa Vrhunc.

Stördämpfung

GeraldFiebig_Stoerdaempfung_web

Commissioned by Stefan Schulzki and Beatrice Ottmann

Available for performance under a Creative Commons Licence.
Creative Commons Lizenzvertrag
Stördämpfung von Gerald Fiebig ist lizenziert unter einer Creative Commons Namensnennung – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.
Über diese Lizenz hinausgehende Erlaubnisse können Sie unter http://www.geraldfiebig.net erhalten.

Premiere:

Montag, 05.10.2015
SOUNDS AND BALLADS

Beatrice Ottmann – Sopran
Stefan Schulzki – Elektronik und Klavier

Werke von Stefan Schulzki, Erich S. Hermann, Victor Young, Thelonius Monk, EMERGE aka S.Stadelmeier und Gerald Fiebig

Zum Flyer

Konzertsaal des Leopold-Mozart-Zentrums (Maximilianstr. 59), Beginn: 20:00 Uhr.
Eintritt € 15,- / erm. € 10,-